10.11.97

GESCHICHTE KONTRA GEGENWART

30 Jahre Freie Musik trafen sich im Podewil

 

Wie weit sich die europäischen Spielarten der Freien Musik von ihrem ehemaligen amerikanischen Vorbild, dem rebellischen Free Jazz der Schwarzen Amerikaner, entfernt haben, zeigte die Ge­gen­überstellung der gereiften Altmeister der deutschen Szene mit Musikern aus Europa und den USA im Programm des 30.Total Music Meeting.

Während das Charles Gayle Trio (USA) ein in sich stimmiges, zwar etwas kühles Revival des 60er Jahre Free Jazz mit frei­tonaler Melodiebildung auf einem Teppich polymetrischer und freier Rhythmen zelebrierte, er­wiesen sich Kombinationen von eu­ro­päischen und amerikanischen Musikern als äußerst problema­tisch.

So war die amerikanische Rhythmusgruppe im Quartett des Power-Saxophonisten Peter Brötzmann außerstande, dessen Schrei- und Pfeif­attacken jenen aggres­si­ven Wider­stand entgegen­zusetzen, den die­ser braucht, um sich zu entfal­ten. War sie in Brötzmanns Quar­tett eigentlich ohne Nutzen, hätte sie dem Duo des Pianisten Alexander von Schlippenbach mit dem frei an ihm vorbei kaden­zie­renden 73jährigen Saxophonisten Sam Rivers, einem der hart­näc­kig­sten Verfechter selbst­be­stimm­ter Musik in den USA, die fehlende Festigkeit geliefert.

Dieses Total Music Meeting zeig­te, daß der Free Jazz be­reits ein abgeschlossenes Kapitel in der Ge­schich­te des Jazz ist, die Freie Musik sich aber als eigene Musik­richtung stetig fortentwickelt.

Das Ideal des totalen Musikers verkörpert der Kontrabassist Peter Kowald, der zwei Solo­auf­trit­te bestritt. In vollkommener Vertrautheit mit allen Möglich­kei­ten avantgardistischer Klang­erzeugung wechselte er bruch­­los von einer Spielweise zur ande­ren, vom Bordun tibe­tischen Mönchs­gesangs über alea­torische Flageoletts und volks­liedhaft schlich­­te Klänge, bis die Musik überraschend zu ih­rem Anfang zu­rück­fand. Kowalds Musik ist ohne jede Strenge und ergibt sich aus dem Moment. Es ist bezeichnend, daß die Idee der freien Musik auf Begleitin­strumenten wie Kowalds Kontrabaß oder den nicht gerade vir­tu­os gehandhab­ten Akkordeons von Sven Ake Johann­sson und Rüdiger Carl ersteht, wohingegen die Pianisten erst bei der mutwil­ligen Einschrän­kung ihrer Tech­nik zu einer konzentrierten Dar­stellung augenblicklicher Musik finden. Das zeigten die piani­sti­schen Nachforschungen des Engländers Keith Tippett, der sich von den Klängen seines präparierten Klaviers in die Welten des eng­lischen Barock, Chopinscher Romantizismen oder der Neuen Musik führen ließ. Wann immer dagegen sich eine mo­to­rische Routine wie z.B. per­kussive Cluster und »irrwitzige Läufe« bei den in eigenen Ensem­b­les auftretenden Pianistinnen Iréne Schweizer und Christine Wodrasc­ka einnistete, verlor die Musik ihre geistige Bestimmt­heit.

Während bei Kowald, Tippett und auch beim Duo Carl/Johannsson das Prinzip organisch sich ent­wickeln­der Improvisation vor­herrscht, erscheint die Musik des britischen Saxophonisten Evan Parker, auch ein Gründungs­vater, mit seinen teilweise viel jüngeren Mitstreitern auf den ersten Blick chao­tisch. Sie spiel­ten nicht mitein­ander, sondern bewegten sich im Klang­raum katzenhaft wie anein­an­­dersto­ßende Atome, jeder bei voller Wahrung seiner musika­lisch-technischen Eigenarten. Die un­geheuer grazile Improvisa­tions­kunst, wie sie typisch ist für die Londoner Szene, verlang­te auch vom Publikum höchste Auf­merk­samkeit, konnte die Spannung aber bis zum letzten Moment halten.

Eine ganz andere Form von Frei­heit, nämlich die der unbe­grenz­ten Reisefreiheit im musika­li­schen Geiste pflegte das Duo Radici aus Italien. In ihren virtuosen Kompositionen für Knopf­akkordeon und Klarinette knüpfte es ein Band, das von Tel Aviv bis Buenos Aires reichte. Klagender Klezmer, neapolitani­sche Weisen, Pariser Straßen­musik, Brahmsscher Balladenton, Swing á la Oscar Peterson und Benny Goodman und leiden­schaft­liche Tangoverrenkungen rafften Vorstellungen von den Ländern der Erde in eins zusammen.

Matthias R. Entreß