Januar 1998

DIE MEISTERSINGER VOM PRENZLBERG - Die Deutsche Slamparade fand diesmal in Berlin statt.

Eine Meldung vom Sport: Am Mittwoch abend wurde die Dritte Deutsche Literaturmeisterschaft im Boxring des Praters der Volksbühne ausgetragen. Unter lebhafter und teilweise feindseliger Anteilnahme des Publikums wurde der gebürtige Marbacher Harry Hass Erster vor Bert Papenfuß und der US-Amerikanerin Sarah Marrs. Die 5 Preisrichter (unter denen der angekündigte Sascha Anderson fehlte, vielleicht um den Unmut des Publikums nicht von den Hauptakteuren der Veranstaltung abzulenken) hatten unter 11 Kandidaten eine Vorauswahl zu treffen, eine Aufgabe, der sie sich unter Deklassierung der beiden interessantesten Künstler, Peter Wawerzinek und Thomas Kapielski entledigten.

Slam Poetry ist der Name einer Literaturgattung, die sich in Amerika als Reaktion auf eine sich Kunst radikal verweigernde Gesellschaft unter kulturfeind­lich­sten Bedingungen entwickelt hat. Sie lebt vom Kurzvortrag im Wettbewerb, d.h. unter Streß. Die Regeln sind streng und eindeutig. Der Autor hat sechs Minuten, um seine Texte vorzutragen, nach Ablauf der Zeit wird ihm das Mikro aus der Hand geschlagen, wenn er nicht schon vorher durch die Reaktionen des Publikums entnervt aufgibt. Daß unter solchen Bedingungen künstle­rische Formen gedeihen, die auch Werturteilen unter­worfen werden können, ist eines der Wunder, die ein Neuling dieser Kunst nicht erfassen kann. Wer die Spiel­regeln verletzte und wie Wawerzinek eine virtuose Schimpfkanonade losließ bzw. wie Kapielski einen tumultuösen, gleichwohl geplanten Kampf sowohl im Text als auch gegen das opponierende Publikum ausfocht, konnte bei der Fachjury keinen Blumentopf gewinnen. Ausgehend von der Entscheidung der Jury ist Slam Poetry der in herausgebellten aufgeblasenen und absturzgefähr­deten Worten artikulierte innere Monolog, der vor Obszönitäten und Peinlichkeiten nicht haltmacht. Zur Poetry Slam, einer Veranstaltung wie dieser, gehört auch das zu beleidigenden Zwischenrufen aufgelegte Publikum, beißender Qualm von Cabinettzigaretten, fliegende Tomaten und Plastikbecher. Nicht dazu gehört die Diskussion. Die spontan eingeworfenen Kommentare beschränken sich auf einzelne Worte, von denen die Hälfte vulgär, die anderen oft extrem scharfzüngig sind. Aber alles ist nur Spaß. Die Tomate erwies sich als mehrfach verwendbar (sowohl gegen die Jury als auch gegen die Künstler), bis Anja, das Nummerngirl, sie verspeiste. Und so gestaltete sich diese Veranstaltung äußerst unterhaltsam und animierend. Obgleich die Kandidaten meistens schon eine ganze Reihe von Veröffentlichungen vorweisen konnten, mithin als Profis betrachtet werden können, ist diese Kunst grundsätzlich jedem Mutigen bei den zahlreichen Slams in einschlägigen Berliner Kneipen (z.B. im Schöneberger Ex'n'Pop) offen. Sprache, die sich nicht mit den Mitteln innerer Logik hermetisch abriegelt, kann hier als Ausdrucksmittel neu verfügbar gemacht, überhaupt auch erst als verfügbar erlebt werden.

Matthias En­treß