30.12.98
MUSIK
ZUM WEGHÖREN
Ein
streßfreier Jahresausklang in den Sophiensaelen
Beiläufig
genossene Musik, im Barock das Privileg des Adels, heißt heute Ambient. Sie
steht in absolutem Gegensatz zu zweihundert Jahren bürgerlich aufgeklärter
Musikrezeption, mit der allerdings auch ein Stillhaltegebot während des
Konzerts einhergeht. Letzten Mittwoch aber, am Vorabend der großen
Silvesterknallerei, hatte der Musikkonzeptualist Christian von Borries zum
friedlichen 6.Musikmißbrauch! mit dem Titel "Winter Ambient" in den
heimelig ruinösen Festsaal der Sophiensaele geladen, um einem freilaufenden
Publikum die Freuden zwanglosen Hörens näherzubringen.
In
der geschickten Musikauswahl aus drei Jahrhunderten, dargeboten vom in Ecken
und Nebenräumen musizierenden Ensemble Resonanz, sowie von den sanft
dazwischenfahrenden DJs Traveller und Thorsten Oetken war die Leichtigkeit
allenthalben wesenhaft.
Der
Abend beginnt sommerfrisch irgendwo mittendrin im ersten Satz von Beethovens
Pastorale in einem zeitgenössischen Arrangement für Hausmusik, für sich schon
eine Abkehr vom großen Anspruch des Bonner Titanen. Sich steigerndes
Lautsprecherdröhnen schafft zusätzlich Distanz. Die Musik endet, das Dröhnen
bleibt. Im Foyer erklingt John Cages "Living Room Music", eine modernere
Variante der Hausmusik, ausgeführt mit Eßstäbchen auf Tellern und Töpfen,
leicht gespielt und nicht wichtig anzuhören. Sanfter Klavierklang lockt zurück
in den Saal: Cages "Cheap Imitation" geht auf Erik Satie zurück, der
schon bei der Uraufführung seines "Socrate" (1919) die Zuhörer zum
Weghören anhielt. - Nach und nach wird man des Hinterherlaufens müde, man
trifft Bekannte (die Avantgarde ist unter sich), man plaudert, und süß klingen
von fern Händel-Lieder, Vivaldis "Winter" aus den Vier Jahreszeiten...
und Klimpereien aus Johann Philipp Kirnbergers Menuettenkiste 1757.
Lautsprecher verwandeln den Saal akustisch in eine Bahnhofshalle. Im realen
Leben dudelt Klassik in Supermärkten. Die Pianistin genießt es, ganz für sich
Cages "Winter Music" zu spielen...
Musikmißbrauch,
-gebrauch, ─verbrauch? Am ehesten wohl friedliche Koexistenz von
Szenetreff mit aus ihren Pflichten entlassener Musik. Und indem Christian von
Borries dieses dreistündige Kompendium von Paradoxien über die Geschichte des
Hörens abspulte, verwandelte er sein Konzertpublikum ganz beiläufig in eine
unhöfische Club-Gesellschaft, die sich darin gefiel, für Musik bezahlt zu
haben, die sie ignorierte. Jaja, das bürgerliche Zeitalter neigt sich seinem
Ende entgegen. Und das Rauchverbot wurde auch nicht eingehalten.
Matthias
R.Entreß
8.7.99
DER
PFIFFIGE MUSIK-ERWECKER
Christian
von Borries und seine Konzertreihe "MUSIKMISSBRAUCH"
Provokation
ist nicht alles. Aber für Christian von Borries, den Dirigenten, Flötisten und
Musikkonzeptualisten, stellt der laufende Klassikbetrieb ein beständiges
Skandalon dar, dem er mit seiner Konzertreihe "MUSIKMISSBRAUCH" seit
anderthalb Jahren immer neue Alternativen und Fragen entgegensetzt. Daß bei den
unkonventionellen Hörangeboten, z.B. Beethoven-Symphonien in Sextettbesetzung
als Hintergrundgeräusch, auch mal jemand empört den Saal verläßt, ist wohl
unvermeidlich. Die oft witzigen Ideen enthüllen aber die existentielle
Bedeutung, die Musik für ihn hat.
So
auch in den drei dieser Tage anstehenden Konzerten in den Sophiensælen. Im
ersten wird die äußerst zwielichtige Rolle Carl Orffs im 3.Reich beleuchtet,
der mit dem staatlich bestellten "Sommernachtstraum" als
Mendelssohn-Ersatz seinen Beitrag zur Judenvertreibung leistete. "Ein
widerliches Stück", meint v.Borries. "Aber hier stellt sich die
Frage, was ein Interpret mit Musik macht, die er ablehnt." Im gleichen
Konzert (am 10.7.), für das die Berliner Symphoniker gewonnen werden konnten,
wird eine unvollendete Passacaglia von Alban Berg uraufgeführt(!), sowie
vergessene Werke von Horwitz, Weigl und Mossolow gespielt. Am zweiten Abend mit
dem Orchester Generation Berlin am 13.7. erhält Edgar Varèses
"Ecuatorial" von 1934 (Originalfassung mit Theremin) eine
künstlerische Einbettung in den Futurismus, wie sie kein normales Konzert
bieten kann. Werke der klassischen Moderne, so v.Borries, haben in Abokonzerten
nur eine Alibifunktion. Erst, wenn man man sich ihnen mit ganzer Seele zuwende,
tritt ihre Originalität klar hervor. Am 14. kommen im "Ultimativen
Wunschkonzert" die Musikhasser zu ihrem Recht.
Von
Borries, dem die klassische Musik genauso am Herzen liegt wie die
zeitgenössische, scheut sich auch vor "subkulturellen" Kontakten zur
kreativen DJ-Szene nicht. Im Gegenteil, er schätzt die Auseinandersetzung im
Vorfeld eines Konzerts, das Kennenlernen unterschiedlicher Standpunkte. Wer nur
die mutwillige Entwürdigung hehrer Güter erkennen will, dem macht v.Borries
klar, daß der festgefahrene Musikbetrieb die schlimmere Kränkung darstellt. Den
hat der 38-jährige geistsprühende Vollblutmusiker nach 10 Jahren als
Soloflötist im Zürcher Opernhaus und einem Eklat bei seinem New Yorker
Probedirigat für eine Assistentenstelle bei Kurt Masur zur Genüge erfahren.
Nicht
nur Kurt Masur goutierte den neuen Blick aufs Alte nicht. Der Berliner Senat
verweigert der undogmatischen Reihe die Förderung: "Da kommt ja Beethoven
drin vor!"
Doch
davon läßt sich der widerspenstige Musikmacher nicht entmutigen. Und als ihm
eine gemütliche Kapellmeisterstelle angetragen wurde, lehnte er ab: "Ich
habe mir ein Forum geschaffen, in dem ich als Interpret viel weiter gehen kann,
als das bei uns sonst möglich ist." Darauf will er so schnell nicht
verzichten.
Matthias
R.Entreß
"MUSIKMISSBRAUCH"
Folgen 8-10 in den Sophiensælen, Sophienstr.18, Berlin-Mitte, am
10.,13.,14.Juli, jew.21 Uhr. Kartentel.: 283 52 66
11.7.99
VERSCHWIEGEN
UND UNTER DEN TISCH GEFALLEN
-
Christian von Borries dirigiert unbekannte Kostbarkeiten des 20.Jahrhunderts
Wie
überall ist das Glück auch in der Musikgeschichte ungerecht verteilt. Christian
von Borries' 8."Musikmissbrauch"-Konzert in den Sophiensælen bäumte
sich gegen das Vergessen auf. Lebhaftst unterstützt von den erstmals hier
auftretenden Berliner Symphonikern zeichnete er mit Ausschnitten gänzlich
unbekannter Werke ein musikalisches Porträt des Jahrhunderts. Welche Schätze
hält z.B. die 2.Wiener Schule, Wiege der Moderne, noch bereit! Karl Weigls
1.Symphonie von 1908 elektrisierte die Hörer mit ihrem brünstigen
Jugendstilwohllaut und der hitzigen Erotik vielverschlungener Stimmen. Auch
Karl Horwitz' tiefgängige "Todtenfeier" (1922) zeigte, daß im Idiom
des Mahler-Schönberg-Kreises noch längst nicht alles gesagt ist. Noch mehr
trifft das zu, wenn ein so kleines Oeuvre wie das Alban Bergs um wenige Minuten
erweitert wird. Sein kraftvolles hier uraufgeführtes Passacagliafragment von
1912 entfachte eine Sehnsucht nach alldem, was dieser Meister wohl noch in sich
getragen haben mag.
Weitere
Mahnung an ein immergleiches Repertoire: Alexandr Mossolows 5.Symphonie (1962),
die sich stolz über persönliches und sowjetisches Elend erhob.
Das
Vergessen macht Gute und Böse gleich, Unrecht auch hier. Carl Orffs 1938
ausdrücklich gegen Mendelssohn-Bartholdy komponierte Bühnenmusik zum
"Sommernachtstraum" ist ein echter Schandfleck der Musikgeschichte.
Eine klobige Musik, in der statt Elfen dicke BDM-Jungfern Ringelreihn stampften
- eine unfreiwillige Satire auf die Nazikultur.
Vom
Verschwinden von Musik handelte auch Alvin Luciers "Exploration of the
House", wo zwei Takte Wagner per Aufnahme/Wiedergabe-Schleife unterirdisch
gähnende Resonanzen des ruinösen Festsaals hervorbrachten. Ein tolles
Hörerlebnis und das aufregendste Konzert seit langem.
Matthias
R.Entreß
15.7.99
MIT
GERÄUSCH VERBUNDEN
Liebe
und Haß bei "Musikmissbrauch" Folgen 9 und 10
Die
Moderne als magisches Klangkino, der Futurismus als die Kunst des
20.Jahrhunderts - diese Idee war das exemplarische Vorspiel zu Edgard Varèses
"Ecuatorial" beim 9."Musikmissbrauch" in den Sophiensælen.
Der Futurismus war die erste Kunstrichtung, die sich mit der Wahrnehmung der
Welt unter den Aspekten der neuesten Naturwissenschaft und der Technisierung
des Lebens auseinandersetzte, die Bedingungen von Varèses Stück. Musik kam von
da an nicht mehr (nur) von Instrumenten, sondern auch von den Dingen. Die
Geräusche der Maschinen, der Lärm der Stadt und die künstlichen Klänge sind ihr
Faszinosum.
Christian
von Borries, Initiator der erfolgreichen Konzertreihe, überflutete das Publikum
mit Filmen (u.a. R.& C. Eames' "Zehnerpotenzen", einem
Dimensionensturz vom Menschen zum Universum und zurück zu den
Elementarteilchen) und historischen Klangexperimenten. Kindergeschrei und
technische Pannen - Mensch und Macintosh - steigerten die Ungeduld, bevor das
neue Orchester Generation Berlin mit Varèses 1934 entstandenem
"Ecuatorial" den Abend zur Klimax trieb. In diesem zeitlos
avantgardistischen Stück traf alles aufeinander: magische Maja-Texte mit
elektronischen Glissandi von Ondes Martenot und Theremin, mittlerweile
historischer Instrumente aus den 20-er Jahren, und explosiven Bläserattacken.
War
dieser Abend der liebenden Hinwendung zu einem bestimmten Stück gewidmet, galt
der nächste, "Das ultimative Wunschkonzert" ganz dem Unmut. Von
Borries hatte gefragt, welche Musik man noch einmal und dann nie wieder hören
wolle. Im ruppigen Stil der Poetry Slams durfte das Publikum unter Hanns
Zischlers autoritärer Spielführung (Assistentin: Ramoná) den vorgeschlagenen
Stücken mit der roten Karte den Garaus machen. Das Ergebnis wurde an die
Nachrichtenagenturen gefaxt. Dabei kam tatsächlich ein Berg unsäglicher
Schlager, Kitsch und 3 Tenöre zusammen. Abschied auch von André Rieu und Udo
Jürgens. Beethovens verhaßtes "Für Elise" aber erlebte einen
unerwarteten Triumph: die kleine Karolin durfte das Stück zuendespielen,
wodurch endlich einmal der dramatische Mittelteil zu Gehör gelangte.
Erschüttertes
Schweigen bei der 9.Symphonie von Mahler. Welche musikalischen Obsessionen und
enttäuschte Liebe mochten hinter diesem Trennungswunsch stecken? Doch das,
nicht Haß, war es, worauf die einleitende Frage eigentlich abgezielt hatte und
dem das allerdings unterhaltsame Konzert nicht ganz gerecht wurde.
Matthias
R.Entreß