1998
JO FABIANS GENIALE VORSPIELE ZU HEBELS UNVERHOFFTEM WIEDERSEHEN
Kein toter Bergmann in Eisenvitriol, keine runzlige Braut, die 50 Jahre lang trauert - den Fehler hat Jo Fabian nicht begangen, J.P.Hebels herzzerreißende Erzählung »Unverhofftes Wiedersehen« fürs Theater zu bearbeiten. Stattdessen geschieht in der Produktion des Theaterhauses Jena, mit der es am Wochenende im Hebbel-Theater gastierte, das Wunder, daß ein letztes aus dem Text gezogenes philosophisches Substrat zu den Themen Zeit und Trennung locker, manchmal slapstickartig auf die Bühne geworfen wird. Kein Stück nach Hebel also, sondern einige tänzerische Präludien, die auf den Text zulaufen.
Nicht nur durch die repetitive Musik, auch durch die Verdoppelung aller Dinge, zweifaches Innen - Außen, Uhren, Spinnrad, Fenster, Türchen schwingt die Bühne in mehr oder weniger hartem Maschinenrhythmus, einer Funktion der Zeit.
Kein Bergmann, es sind zwei Magrittesche Melonenmänner auf der grünen Seite der Wand (Jan Jochymski, Jakob Kraze), die, der zweite widerstrebend, ihre Armbanduhren in den Sand treten und als Ersatz fürs gleichmäßige Warten die Zeit neu erfinden: im Steptanz, das ist mit Kraft gefüllter Rhythmus, und mit dem Spinnrad, durch das sich Zeit in Produktion niederschlägt. Das Spinnrad ist aber auch das damals verbreitetste Requisit weiblichen Wartens, anhand dessen die Rollenverteilung zu Beginn des Maschinenzeitalters zwischen aktivem Mann und passiver Frau (grellrot gekleidet hinterm Fenster: Susanne Jensen, Anja Thiemann) deutlich wird.
Daß die also unterschiedliche Auffassung von Zeit im Verhältnis von Mann und Frau vor allem das Risiko des einander Verfehlens birgt, zeigt das erheiternde Spiel nach dem Seitenwechsel an Fenster und Türchen im gedrehten Interieur vor blauer Wand - bis sich das eine Paar kriegt und das andere in Trauer versinkt.
Die Bühnenaktionen halten den Zuschauer in steter philosophischer Rätselspannung und lassen ihn Hebels Text, der am Schluß doch noch zu hören ist und sonst den härtesten Kerl zu Tränen rührt, gefaßt ertragen.
Die Erzählung nicht angefaßt und doch mit so sicherer Hand die darauf bezogenen kulturhistorischen Erkenntnisse theatralisch einleuchtend umgesetzt zu haben, ist das große Ereignis. Ein Jammer, wenn die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Aufführung vergeblich wäre.
Matthias R.Entreß