8.8.99

ADRENALIN SATT

Das Tobias Delius 4tet beim Podewilschen Hofkonzert

 

Das Tenorsaxofon von Tobias Delius scheint mit vielen Stimmen zu singen. Rabenschwarzer Südstaaten-Growl und ekstatische Pfeif-Glissandi fließen ihm gleich leicht aus dem Trichter. Ja, man meint gar, dem jungen Archie Shepp wiederzubegegnen. Aber bei Delius ist alles echt. Dem 35-Jährigen, in England gebürtig, in Deutschland und Mexiko aufgewachsen, seit 15 Jahren in Amsterdam zuhause, ist die Vielsprachigkeit angeboren. Auf der Basis seines wohlklingenden runden Tons entwickelt er eine Eleganz und Wendigkeit, die auch im Free Jazz ihresgleichen sucht.

Doch in seinem "4tet", mit dem er am Samstag beim ausverkauften Podewilschen Hofkonzert einen umjubelten Auftritt bestritt, hatte er in dem Cellisten Tristan Honsinger einen kongenialen Widerpart. Auch der klassisch geschulte Honsinger besitzt einen schönen Ton. Mit seiner hyperaktiven und nervenzerfetzend verbogenen Atonalität aber brachte er vor über 20 Jahren das hartgesottene Publikum beim Total Music Meeting gefährlich gegen sich auf. Nicht den Klang seines Instruments verletzte er da, sondern die Idee von dem, was Melodie tun darf. Indem er konsequent gegensteuert, das Tempo drittelt, fünftelt, bringt er eine phantastische Spannung in die Musik. Man möchte ihn nicht als Autofahrer erleben. An der Ampel würde er aus der zweiten Reihe wohl als erster über der Kreuzung sein wollen. Während Tristan Honsinger, der Paniker, jeden einzelnen Ton mit hektischer Spannung erfüllt, sucht Delius für jede Phrase einen neuen Ausgangspunkt, von dem aus er sanft gluckernd oder mit der Schärfe eines Karate-Schlags die Mitte durchquert.

Vorgefertigtes melodisches Material, das Delius und Honsinger ad libitum einsetzen, geben der prinzipiell freien Improvisation ein Gerüst. Mit den Melodien, Gefühls-, Erinnerungs-Zitaten, laszives Caféhaus-Geschrammel, Walzer oder Kurt-Weill-artigen Märschen, wird ein faszinierendes Vexierspiel aus Annäherungen und Verfremdungen getrieben. 

Am Schlagzeug ein Adrenalin hoch treibender Altmeister der Szene: Han Bennink, ein 57-jähriger Junge in kurzen Hosen. Auch er stellt sich - mit absurder Heftigkeit - gegen den, man staune, stets wahrnehmbaren Strom. Der rhythmischen und melodischen Kontrapunktik fügt er mit artistischen Clownseinlagen auch noch eine darstellerische Komponente hinzu. In einem Moment swingt er wie vom Teufel geritten, im nächsten karikiert er den Jazz - und alles zusammen ergibt eine wuchtige, erregende Musik.

 

Matthias R.Entreß