NEUE
REIZE, ALTE FORMENZwei Duos aus London bei "Sensations" im Hamburger
Bahnhof
Derek
Bailey, der 68-jährige Gitarrist und Gründervater der englischen
Free-Music-Szene mußte seine fiebrige Bronchitis auskurieren und konnte beim
"Sensations"-Konzert im Hamburger Bahnhof nicht auftreten. Dadurch
brauchte man zwar nicht ganz auf Baileys kristalline Gitarrensplitterklänge zu
verzichten - die steuerte Experimental-Discjockey Steve Noble anfangs mittels
Schallplatte bei - nur konnte der einzigartige musikalische Generationenvertrag
der britischen Avantgarde diesmal nicht vorgeführt werden und es fehlte auch
die pure instrumentale Handarbeit. Sowohl Noble, der auf den beiden Plattenspielern
Klangfetzen aus Sprech─, Geräusch-, Ethno- und anderen LPs hervorscratchte,
als auch Pat Thomas am Sampler bedienten sich vorgefertigten Materials, das sie
zudem mechanisch (grausam anzusehen für Freunde der Schwarzen Scheiben) oder
elektronisch stark verfremdeten. Wie klingt das? Salven von Lärmschocks
prasselten aufs Publikum ein, vorüberhuschende Klangexzerpte, schattenhaft erkennbar.
Der Begriff der Collage trifft hier genausowenig zu wie der der Fragmentierung.
Hinter der extremen Komplexität sinnlicher Reize verbarg sich das Auf und Ab
lebhafter Free-Jazz-Improvisation, eine Erweiterung der Dimension, aber nicht
der äußeren Form.
Die
aufgeriebenen Nerven fanden im zweiten Teil des Konzerts überraschend Erholung.
Daniel Pemberton, der 21-jährige Wunderknabe des Ambient am E-Piano, traf hier
auf David Toop, 49, Verfasser der Buches "Ocean of Sound", an Pedal
Steel Guitar und Flöte. Obwohl sie sich schon seit '93 kennen, war dies ihr
erster gemeinsamer Liveauftritt. In den langsamen Metamorphosen ihres trauerbewölkten
Klangmeers arbeiteten untergründige Erregungen. Toops gehauchte Flötenflageoletts
und die verzagt klirrenden Glissandi seiner zitherartigen Gitarre irrten unter
den nächtlichen Dünungen von Pembertons aus dem Nichts erscheinenden leisen,
doch grellverzerrten, lastenden Akkorden umher. Der Gegensatz zwischen Jugendkultur
und freigeistigem Nachdenken über die Bedeutung des Hörbaren war aufgelöst in
gespannt/entspannter Einfachheit. Ein kontrastreicher Abend.
Matthias
R.Entreß