Biennale 1999

1. EIN WOCHENENDE MIT NEUER MUSIK

 

7 Konzerte am ersten Biennale-Wochenende. Der echte Freund der Neuen Musik nimmt die seltene Gelegenheit wahr und läßt sich Ohren und Geist freispülen. Was sonst nur Ausnahme ist, wird hier zur Regel. Es ist nicht mehr die pauschale Verteidigung gegen jene nötig, die zeitgenössische Musik nur für eine Geschmacksverirrung halten. Der Hörer läßt die Dinge geschehen und sie öffnen sich ihm gemäß ihrer eigenen Natur. Er lernt hören. Und er ist nicht allein. Fast ausverkauft die meisten Konzerte.

Samstagnachmittag fand das einzige Konzert des ganzen Festivals statt, das sich im engeren Sinne der Raumklangmusik widmete, immerhin eine Musikrichtung, die in letzter Zeit eine starke Belebung und Erneuerung erfahren hat. Susanne Stelzenbachs und Ralf Hoyers genau auf den Graphiksaal im Ostflügel des Hamburger Bahnhofs abgestimmte Konzertinstallation mit dem ensemble recherche, "Annäherung/Entfernung" - recht sinnig für einen ehemaligen Bahnhof, ließ Töne von Mund zu Mund durch die ganze Länge des Saals wandern. Die eher armen musikalischen Versatzstücke, Einzeltöne, Triller, Glissandi wurden durch klar nachvollziehbare Umstrukturierung interessant. Geheimnisvolle Zahlenspiele führten Regie. Aber die Kunst bricht mathematische Regeln, und so führte der Rücklauf nach Erreichen einer zeitlichen Symmetrieachse nicht an den Anfang zurück, sondern zerfaserte wie ein in sich zusammenfallendes Universum.

Ungewöhnliche Gerätschaften kamen beim Konzert des Trio Accanto am Sonntagmorgen im Kleinen Saal des Konzerthauses zum Einsatz: Manos Tsangaris' "Drei Orte" ist ein fröhlich zelebriertes Spiel mit Klang, Nichtklang, meterlangen Pappröhren, einem Kürbis im Wasserbad, tragbaren CD-Playern und natürlich den Instrumenten des Trios, Saxophon, Schlagwerk und Klavier. In diesem Konzert fand auch die Deutsche Erstaufführung von Helmut Lachenmanns Klavierstück "Serynade" ('98) statt. Verzwickt genug zwar und mit dem haarsträubendem virtuosen Anspruch, Harmonien als Zerfallsprodukte von Nachklang zu gestalten, bestand das Stück fast nur aus schönen Stellen, Wanderungen ins Erdinnere des Klavierklangs. Staunenswert: Pianistin Yukiko Sugawara.

Auf absoluten Spitzenniveau präsentierte sich das Brüsseler Ictus-Ensemble am Sonntagnachmittag im Podewil mit Werken skandinavischer Komponisten. Magnus Lindbergs "Zona", ein Cellokonzert von 1983, ist der britischen New Complexity verwandt. Mitreißend, wie aus den zahllosen disparaten Linien sich unvermittelt und traumwandlerisch Unisonopassagen zusammenschmiegen. In der unaufhaltsam schäumenden Musik bildeten sich Ebenen verschiedener Geschwindigkeit. Die Stücke des zweiten Teils von Rolf Wallin bzw. Kaija Saariaho rechneten mit Wissenschaftlern statt mit Hörern. Mathematische Prozesse auf 1-Ton-Rhythmen (Wallin) bzw. Saariahos Klettertouren in Kristallgittern unterforderten die Ictus-Leute.

Höhepunkt am Sonntag schließlich das Konzert mit dem RSB unter Jürg Wyttenbach. Drei Stücke aus den Wilden Achtzigern vertraten jedes auf ihre Weise kritisches Bewußtsein. Friedrich Schenkers "Fanal Spanien 1936" war vom Rundfunk der DDR als optimistisches Werk unter Verwendung des Liedguts der Arbeiterklasse bestellt worden. Mit der lärmig überbordenden Collage übererfüllte Schenker das Plansoll ums Vielfache - und entzog sich mit Witz der Doktrin des Sozialistischen Realismus.

Aus dem Geräuschmaterial der avantgardistischen 70-er-Jahre-Musikverweigerung baute Mathias Spahlinger (Jahrg.'44) 1986 sein Klavierkonzert "inter-mezzo". Mit den Mitteln der Nichtmusik formuliert es musikalische Gedanken über Ordnung und Unordnung, ein postmoderner Ansatz, der Verlorenes zurückerlangen versucht, ohne erfahrene Erkenntnisse zu leugnen. Mehr im als am Klavier: Róbert Regös mit Hammer und anderem Gerät.

Rolf Riehms "O Daddy" ('84) über einen Vatermord aus Notwehr in Italien scheitert daran, mit einer ähnlich avancierten Kompositionstechnik, konkrete Gesellschaftskritik zu formulieren. 

Und zwischen all das kritische Klanggut rutscht eine Uraufführung, "Essence" des Deutschkanadiers Michael Oesterle geb.1969. Er will ganz einfach Musik machen, Stimmungen vermitteln, Klangbilder malen. In dieser Umgebung wirkt das ahistorisch und verträumt, ein Programmunfall.

Matthias R.Entreß

 

2. MAXIMAL UND MINIMAL

- Biennale Konzerte vom Freitag in der Philharmonie und der Nationalgalerie -

 

Die 80-er Jahre waren für einige der wichtigsten Komponisten eine Wendezeit. Kagel und Schnebel komponierten plötzlich ernste Oratorien oder Messen, Stockhausen widmete sich ganz seinem esoterischen "7 Tage aus Licht"-Projekt und Luigi Nono wandte seine politisch gemeinte Expressivität nach innen. Nonos schulemachende Verlagerung von der Suche nach gesellschaftlicher hin zur individuellen Erkenntnis öffnete der zeitgenössischen Musikwelt die Augen für eine neue Bedeutsamkeit von Musik. Hören war für Nono nun aktives Handeln. Seine Musik wollte das Gehör zum Sinn geistigen Erkennens machen.

Im ganz der 80-er-Jahre-Retro gewidmeten Biennale-Konzert des DSO unter Arturo Tamayo am Freitag in der Philharmonie stand eines der großen Spätwerke Nonos auf dem Programm: das in Berlin komponierte "Caminantes... Ayacucho" (1987) für Orchester und Chor, teilweise ins Auditorium versprengt, Alt, Baßflöte und Live-Elektronik auf einen Text von Giordano Bruno, einem der großen Wanderer auf der niemals endenden Suche nach Wahrheit. Die stille, feste Musik zeichnet diese Suche nach. Sie stoppt, steht still. Elektronische Einzeltöne oder langgehaltene komplexe Orchesterklänge wechseln sich mit heftig insistierenden Passagen ab. Überall präsent ist der offene, nachhorchende Klang. Zurückhaltend schön: Susanne Otto, Alt, und Roberto Fabbriziano, Baßflöte, musikalische Vertraute des späten Nono.

Auch Hans Werner Henze war vormals als "politischer" Komponist aufgetreten. Zu seiner ganz anderen Eigentlichkeit als in Ehrfurcht vor sich selbst erbebendes romantisches Genie fand er 1984 in seiner eingangs gespielten 7.Symphonie. Überbordend mit ihrem aufregenden Stimmenwirrwarr imitiert sie die Ausdrucksbilanz der klassischen vier Sätze, ohne deren innerer Klarheit auch nur entfernt nahe zu kommen. Tausend schöne Stellen geben dem mitreißend musizierenden DSO viele dankbare Aufgaben, darunter aber auch die arg kitschige Elegie im 2.Satz.

Nach diesem Konzert gings dann rüber in die Nationalgalerie. Statt des Orchestermonstrums tönte hier das Akkordeon. Teodoro Anzellotti hat zahlreiche Komponisten zu Werken für das Flaggschiff der Volksmusik angeregt und ihm eine Universalität zugewiesen, die der des Klaviers gleichkommt. Luciano Berios "Sequenza XIII (Chanson)" von 1995 baut Akkordarchitekturen auf und ab und entwickelt sogar perspektivische Klanglandschaften mit Vorder- und Hintergrund.

Zur alleräußersten Verkleinerung des musikalischen Aufwands führten Lautgedichte von Josef Anton Riedl und Tom Johnson. Mit Riedls zweistimmigen Onomatopoesien zeigten Michael Hirsch und Robert Podlesny, daß man für musikalische Aktionen zur Not auf den Mund zurückgreifen kann, auch wenn man kein Sänger ist.

Leider war sich Teodoro Anzellotti nicht zu schade, um bei Hans-Peter Jahns abschließender Musikbeleidigung "ad acta" für Akkordeon und zwei Schauspieler mitzuwirken, ein schlecht erfundener Dialog zweier Musik-und-alles-Hasser. Als Auftragswerk der Biennale eine glatte Fehlinvestition, die am besten gleich titelgemäß verlegt werden möge.

Matthias R.Entreß

 

3. ÜBERWIEGEND LEISE

- Die letzten Biennale-Konzerte am Sonntag -

 

Bei der Neuen Musik geht es ums "Material", d.h. um eine Klang-, Form-, spieltechnische oder soziale Idee, und was damit angestellt wird. Das war bei jeder neuen Musik so; was von ihr selbstverständlich wird, muß dereinst die Geschichte zeigen. Stefan Streichs im ersten der drei Sonntagskonzerte vom ensemble recherche uraufgeführten "Sextett" bedient sich einer der Hauptideen der 80-er Jahre, der Idee des Lauschens, dessen wichtigster Exponent Luigi Nono war. (Abends in der Philharmonie hatte man den Vergleich mit dem Original: Nonos "Für den Architekten Carlo Scarpa und seine unbegrenzten Möglichkeiten"('84) zeigt die Idee der Stille in seiner innigsten und musikalisch reichsten Gestalt.) Streich aber reduziert Luigi Nonos Ansatz auf das absolute Minimum des Hörexperiments und verzichtet auf jegliches Sich-Freispielen. Das Gegenüber von Streich- und Holzbläsertrios bestand vorwiegend aus immer längeren Pausen, die von multiphonen Klängen, also unsauberen Überblasungen bzw. ebenso unsicheren Flageoletts der Streicher unterbrochen wurden. Obwohl die Musikgeschichte eigentlich schon darüberhingezogen ist, sprach die Konzentration der Zuhörer dem Werk sein Recht zu.

Auch im Podewil am Nachmittag mit dem Kammerensemble Neue Musik Berlin begann es zunächst sehr still. Salvatore Sciarrino (geb.1947) versuchte in seinem 3-teiligen Stück dt. "Erkundungen des Weißen" ('86), die Geräusche am Rande des Tons solistisch am flageolettierenden Kontrabaß bzw. im gemischten Quartett in ein kommunizierendes Miteinander zu verschmelzen. Aber wo sich die Instrumente selbst nicht kennen, kann sich da ein Ensemblespiel ergeben? Sciarrino geht mit äußerster Vorsicht daran, flüsternd, tastend, und resigniert zuletzt: Das Werk endet mit einem verhaltenen Schlagzeugsolo.

[Mit Nicolaus A. Hubers alberner "Seifenoper (OmU)" von '89, und Frank Cox' "Entstehung", einem Auftragswerk der Biennale, erklangen zwei Werke von imaginärer Theatralität. Huber nahm sich, klanglich unanschaulich, die irrationale Dramaturgie von "Dallas" usw. vor, Cox führte die Idee vom organischen Wachstum und fortschreitender Differenzierung aus.]

Bei all dem Erforschen und Ertasten verwundert es, daß die Musiker stets ganz klassisch nach vorne spielen. Juliane Klein geht da andere Wege. In ihrem "Aufriß", das im Abschlußkonzert mit der Jungen Deutschen Philharmonie uraufgeführt wurde, setzt sie die 18 Streicher in Rautenform mit dem Rücken zum Publikum aufs Podium. Die Wirkung ist bedeutend. Das Stück, das mit einem fein differenzierten Klang- und Formvorrat aufwartet, hält sich bedeckt. Die Zuhörer sind Zaungäste. Sie beobachten, statt zu "rezipieren". Die Musik bleibt fern, drängt sich nicht auf und kommt so doch viel näher.

Volles Orchester dann für Stephan Winklers "comic strip v1.1". Bei diesem bruitistischen Stück hat Techno-Tänzer Winkler (32) wohl weniger an "Fix und Foxi" als an die japanischen Endzeit-Comics gedacht. Eine fetzig gemeinte Drum'n'Bass-Passage kommt ein wenig spießig daher. Aber die wilde Klangphantasie setzt sich durch, eine Filmmusik, würdig eines "Mad Max"-Spektakels. Von allen neuen Orchesterstücken des Festivals war dies wohl das farbigste und unbekümmertste und das Einzige, das sich ernsthaft um die triviale Massenkultur bemühte. Derart erhitzt konnte oder wollte Dirigent Lothar Zagrosek danach Nonos ernstem "A Carlo Scarpa..." die lange Generalpause nicht gönnen, die in der Partitur am Schluß vermerkt ist.

Die 17.Musik-Biennale Berlin ist nun zuende. Der Erfolg solch eines Festivals muß weniger an den Einnahmen als am Zuspruch des Publikums gemessen werden, und der war enorm. Und das, obwohl Neue Musik nicht immer das reinste Vergnügen ist. Bis auf zwei waren alle Konzerte gut besucht bis ausverkauft. Die 150 Dauer- und 250 Sammelkarteninhaber waren nicht unter sich. Viele brachten ihre Freunde mit. Das Publikum war altersmäßig stark gemischt, interessiert und begeisterungsfähig. Der Höhepunkte gab es viele, unvergeßlich wird der lange Morton-Feldman-Abend bleiben. Vier Werke Helmut Lachenmanns setzten Maßstäbe, was die Musikwerdung sperrigen "Materials" anging. Besonders auch zu loben waren die hervorragenden Programmheftartikel von Habakuk Traber, Horst A.Scholz und anderen. Was fehlte? Sicher vieles, wie sollte es anders sein. Vielleicht hätten die jungen englischen und italienischen Szenen mit ihrer Anti-Avantgarde etwas mehr Skandal gemacht. Freuen wir uns aufs nächste Mal.

Matthias R.Entreß