1999

NACHDENKEN ÜBER EINEN GROSSEN UNZEITGEMÄSSEN

- Bernd Alois Zimmermanns Frühwerk in der Akademie der Künste -

 

Auch 28 Jahre nach seinem Freitod geht das Nachdenken über den Komponisten Bernd Alois Zimmermann, den Schöpfer der Oper "Die Soldaten", weiter. Aber während die bedeutenden Werke seiner Reifezeit in ihrer erschütternden Ausdruckskraft heute zu den unverrückbaren Schätzen der Neuen Musik zählen, sind die frühen Werke der 40-er Jahre, die ja durchaus keine Jugendstücke sind, in ihrer Bedeutung noch nicht ausreichend gewürdigt. Der außerordentlich substanzreiche Clubabend mit "offenem Archiv" am Samstag in der Berliner Akademie der Künste, mit Expertengespräch, Filmuraufführung, Präsentation neuerworbener Autographen Zimmermanns, z.B. der Partitur der "Sinfonie in einem Satz" (1953), einem Geschenk des Dirigenten Günter Wand (mit Spuren seines Schweißes), zweier Bücher mit Texten des bzw. über den Komponisten (von Klaus Ebbeke), sowie vor allem die Gesamtdarbietung des Soloklavierwerks durch Tiny Wirtz rückte im Jahr seines 80. Geburtstages Zimmermanns frühe Schaffensjahre ins Blickfeld. [Dies ist in Zeiten der Auflösung kompositorischer Universalrezepte heute von ganz besonderer Bedeutung.]

Anders als die durchschnittlich 10 Jahre  jüngeren, das Musikleben der frühen Nachkriegszeit an sich reißenden Avantgardistenkollegen Stockhausen, Boulez, Henze usw., die unbeeinflußt von der dumpfen Nazimusikkultur direkt an die zweite Wiener Schule anknüpfen konnten, hatte der ausgebildete Schulmusiker Zimmermann sich in durchaus schmerzhaften Prozessen mit den unzeitgemäßen Anteilen seiner musikalischen Identität auseinanderzusetzen. Die Folge dieser kreativen Kämpfe aber war eine schier unendliche Formenvielfalt [, die Professor Diether de la Motte anhand eines Riesenstapels von Notenbeispielen anschaulich machte] - die Gleichzeitigkeit disparater Formen wurde denn auch das wichtigste Stilmittel Zimmermanns.

Tiny Wirtz, die fast alle Klavierwerke Zimmermanns uraufgeführt hat, verdeutlichte in ihrem Spiel, daß es bei den Werken bis '46, u.a. dem suitenartigen "Extemporale", nicht um die Erweiterung überkommener Mittel, sondern um das Unbehagen an ihnen ging, um einen Prozeß unaufhaltsamer Selbstentwurzelung. Ein sehr an Ravel erinnerndes Siciliano daraus zerbricht ebenso wie der Schumannsche Tonfall in den nachfolgend uraufgeführten, erst kürzlich aufgefundenen "Drei frühen Klavierstücken" (1939 - 43). Das "Capriccio" (1946), eine Sturzflut bekannter Kinderlieder aber weist schon auf die später geübte Collagentechnik hin.

Die beiden Hefte des ernsten "Enchiridion" (1949 und 52) durcheilten die verpaßte Moderne, Auflösung von Tonalität, 12-Tontechnik, bis die bis ins letzte seriell durchorganisierten "Konfigurationen" sowohl den eigentlichen Zimmermannschen Ton fanden, als auch mit ihrer Komplexität die punktualistischen Zeitgenossen überholten. Den gar nicht zu überschätzenden intellektuellen und technischen Anforderungen, dieser aus widerstreitenden Kräften sich nährenden Musik war Tiny Wirtz aus 50-jähriger Erfahrung in jeder Hinsicht gewachsen.

Matthias R.Entreß

 

Neue Publikationen: Klaus Ebbeke: Zeitschichtung. Gesammelte Aufsätze zum Werk B.A.Zimmermanns. Schott, 219 S., DM 89,-

B.A.Zimmermann: "Du und Ich und Ich und Welt." Archive zur Musik des 20.Jhdts, Band 4. Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Hg.: Heribert Henrich. 150 S. DM 35,-