März
1999
KLEINE
ENZYKLOPÄDIE DES MODERNEN STREICHQUARTETTS
-
Drei Spätkonzerte mit dem Arditti Quartett bei der Musik-Biennale -
Unter
allen Streichquartetten, die sich auf Neue Musik spezialisiert haben, dürfte
das Arditti-Quartett das berühmteste und versierteste sein. Wo es spielt, sind,
wie bei den drei Biennale-Spätkonzerten im Kleinen Saal des Konzerthauses,
volle Reihen garantiert. Doch der routinierte Umgang mit technischen Problemen,
die für andere - klassische - Ensembles schier unlösbar sind, geht zu Lasten
des Besonderen. So war Luigi Nonos legendäres "Fragmente - Stille, An
Diotima" plötzlich nicht mehr das rätselhafte Kultstück, die körperlose
Meditation, als die es komponiert wurde, sondern schlicht ein Quartett wie
jedes andere. Die lapidaren 52 Fragmente mit ihren zahlreichen
Perspektivenwechsel und klanglichen Gegensätzen von Enge und Weite ankerten
hier fest auf dem Boden der Tatsachen.
Daß
nicht alles Lachenmann ist, was wie Lachenmann klingt, wissen
Biennale-Dauergäste bereits - Stichwort Pintscher und Spahlinger. Die vier
Streicher klopften, knirschten, kratzten, zischten in interessanter
Komposition, abwechslungsreich und spannungsvoll, fast schon ein wenig
kulinarisch. Es wird wohl mancher gerätselt haben, ob die Programmfolge
stillschweigend geändert wurde - aber das war dann doch das Werk der jungen
Jamilia Jazylbekova aus Kasachstan (geb. 1971), die lt. Programmheft in dieser
Weise der Entstehung einer Skulptur von Camille Claudel nachsann. Merkwürdig.
Was treibt ein junges Mädchen nur dazu, seine Geschichte in dieser
absichtsvollen Nicht-Sprache zu erzählen?
Mit
"Reigen seliger Geister", seinem 2.Streichquartett von 1989, bewies
Helmut Lachenmann dann, daß er seinen Nachahmern schon lange davongelaufen ist.
Anders als beim Nono-Stück war hier die Konzentration auf die geisterhaften,
magischen Momente der Stille ungebrochen. Enthusiastischer Beifall und ein
aufgeregter, glücklicher Komponist.
Eklatant
wurden Mängel der künstlerischen Durchdringung bei den anderen beiden
Uraufführungen. Wann immer die spieltechnischen Anforderungen wie bei Atli
Ingólfssons kompositorisch guten "LZH" nur im mittleren Bereich
liegen, geht den vier Virtuosen das Spiel so geölt glatt von der Hand, daß keine
Funken von den Saiten schlagen. Auch Erik Lunds "Durch die Linie des
Bogens, den sie formen", die Vertonung eines philosophischen Diskurses
über das Einzelne im Ganzen, klang wie reine Konzeptmusik. Die innige
Interpretation, die das Werk verdient hätte, blieb aus.
Sperrige
Stücke wie die Vierdimensionale Fuge "Canto Mnémico" des Mexikaners
Julio Estrada mit ihren spannenden Überlagerungen verschieden rascher Stimmen,
zudem vierteltönig verzerrt, haben da bessere Chancen auf eine angemessene
Aufführung.
Noch
mehr gilt dies für die oft gespielten spektakulären Zirkusnummern des
Arditti-Quartetts wie "Tetras" von Iannis Xenakis oder Conlon
Nancarrows "Canon 3/4/5/6" von 1987, wo die vier prinzipiell gleichen
Stimmen einander mit geringfügigen Tempounterschieden überholen. Das verursacht
schädelspaltende Rhythmuscluster. Ehrfurchtgebietende Leistungen, und doch
bleibt ein fader Nachgeschmack. Man wünscht dem Quartett Urlaub mit Beethoven.
Matthias
R.Entreß