16.1.03  

UltraSchall, das Musikfestival der Zeitgenossen      

Wachstum ist auch im Kulturbetrieb eher selten, bei der Neuen Musik aber kann man es vermelden. Das Festival UltraSchall, das heute beginnt (Konzerthaus, 19 Uhr), hat in den vergangenen vier Jahren jedenfalls bewiesen, dass das Publikum nicht nur Interesse an Neuer Musik findet, sondern sie auch als relevanten Ausdruck der Zeit ansieht.  

UltraSchall ist jedoch kein Uraufführungsfestival. DeutschlandRadio und SFB, die beiden Veranstalter, definieren Zeitgenossenschaft als alles, was in der Lebenszeit der gegenwärtig Lebenden produziert wurde - für die Musik heißt das: von Schönberg bis heute. Das ist eine sehr schöne Zielsetzung, setzt sie doch das Aktuelle in eine Kontinuität des künstlerischen Fortschritts in der Moderne.  

Gleichwohl haben neueste Kompositionen vor allem jüngerer Komponisten das größte Gewicht. In Komponistenporträts herausgestellt werden z.B. Beat Furrer (22.1.) und der junge Jörg Widmann (23.1.), die als Ensembleleiter bzw. als Klarinettist aus der Aufführungspraxis der Neuen Musik schöpfen. Der DAAD Stipendiat Thierry Blondeau (24.1.) verbindet die französische Tradition der Spektralmusik mit Raumdenken, während die Japanerin Misato Mochizuki, von der drei Stücke vom Brüsseler Ictus-Ensemble (21.1.) und eins im abschließenden Orchesterkonzert mit dem RSB (26.1.) gespielt werden, bekannt geworden ist mit ihrer verblüffenden Klangfantasie.  

Zum Glück sind die beiden Programmmacher Martin Demmler/SFB und Rainer Pöllmann/DLR durchaus nicht dem Jugendwahn verfallen. Im heutigen Eröffnungskonzert mit dem BSO steht zum Beispiel ein neues Stück von Helmut Lachenmann an, der jahrzehntelang für einen Störenfried des Klassikbetriebs gehalten wurde und dessen Musik erst jetzt in ihrer Skrupelhaftigkeit und Sensibilität erkannt wird: "NUN" für Solisten, Stimmen und Orchester ist nicht direkt eine Uraufführung, sondern die erste Aufführung der revidierten Fassung. Auch das ist Programm bei UltraSchall, gesammelte Erfahrungen zu vermitteln und gegenüber dem Unerprobten einen Qualitätszuwachs zu erzielen. Eine besonders bedeutende Uraufführung aber dürften beim Konzert des Pellegrini Quartetts (20.1.) die 12 Stücke für Streichquartett von Erhard Grosskopf (geb.1935) werden, dessen äußerst zerbrechliche, keinem Stil zuzurechnende Musik endlich die gebührende Aufmerksamkeit erfährt.  

Aber wenn sich nun niemand mehr sträubt, Avantgardemusik zu spielen oder zu hören, verliert sie da nicht ihre Rolle als kritischer Spaltpilz der Gesellschaft? Auch das wird reflektiert, bei der Podiumsdikussion "Wo bleibt das negative?" (morgen, 16 Uhr, Sophiensæle)  

Matthias R. Entreß