2.11.02 Der Weg als Ziel Die Essenz des Free Jazz beim Total Music Meeting  

Der Free Jazz, die freie Musik oder welchen Namen man ihr immer geben möchte, hatte es diesmal auch ins JazzFest-Programm geschafft. Konnte sich das gestern (Samstag) beendete Total Music Meeting, die konstante Alternative zum Establishment des Jazz, trotz Sparetats mit opulentem Programm, da noch behaupten? Allerdings, und zwar so: Was dort als fertiges Produkt erschien, war hier als Prozess zu beobachten. Die Verinnerlichung eines auf die Lebenszeit der Musiker angelegten künstlerischen Agierens stand als Maßstab jeweils am Beginn der drei langen Abende im Podewil. Die Gründerväter der Bewegung, Alex Schlippenbach und Evan Parker, legten mit ihren bereits Jahrzehnte alten Trios, im ersten Konzert auch gemeinsam, dar, wie aus den vegetativen Verstrickungen ohne dramaturgische Verabredungen große, gar psychologisch zu deutende Spannungsbögen entstehen. Diese Musik kommt gewissermaßen ohne Ideen aus, sie ist ein tragisch-schönes Bild eines konfliktreich fortschreitenden, jedoch beherrschten Alltags. Der Gedanke eines freigelegten Kontinuums ist auch bei manchen Nachkommen die Basis. Das italienische Trio Ossatura, das herkömmliche Instrumente wie Klavier und Trommeln nur am Rande beachtet und vor allem mit mikrofonierten Geräuschen hantiert, führt zwar andere Klangerfahrungen vor, stiller, brüchiger, weniger aggressiv, aber mit dem gleichen Gespür fürs Organische. Die Substanz der freien Musik ist die persönliche Stilistik der Musiker. Entwicklungen treten vor allem durch Begegnungen ein. Perspektivenreich und spannend war in diesem Sinn das Trio "Mal d'Archive", in dem der stets impulsive Wuppertaler Posaunen- und Cello-Veteran Günter Christmann durch die ruhigeren Klanglandschaften der beiden jungen Berliner Elektronik-Fummler Boris Baltschun und Serge Baghdassarians wanderte. Mehr als nur neue Klänge traten ins Total-Music-Spektrum mit der chinesischen Guzheng-Spielerin Xu Fengxia. Sowohl im Duo mit ihrem Landsmann Wu Wei, der die Mundorgel Sheng und die Geige Erhu spielte, als auch im Trio mit Wolfgang Fuchs und Roger Turner brachte sie das lyrische und martialische Klangempfinden Chinas ein. Wie der Klarinettist und der Schlagzeuger einen langen wie selbstvergessen wirkenden epischen Gesang Xu Fengxias vorsichtig umspielten, das zählte zu den glücklichsten Momenten dieses Festivals. Matthias R. Entreß