1.9.02  

Japan im Blick des besessenen Beobachters  

Retrospektive Shohei Imamura im Arsenal      

Wer kennt hier Shohei Imamura (geb.1926)? Unter den Film-Regisseuren der japanischen Nouvelle Vague sei er, so geht die Rede, nicht der Bekannteste, aber der Interessanteste. Er habe ein anderes, schonungsloses Bild vom Nachkriegsjapan gezeichnet, das mit der offiziellen Darstellung nichts gemein habe. Derlei Sprachregelungen mögen zwar zutreffen, sie reichen aber nicht im Entferntesten aus, um auf die Begegnung mit diesem Vulkan von Filmemacher und seinem Werk vorzubereiten, das von den Menschen den Anschein von Ordnung und Gefasstheit reißt und sie nackt im Chaos ihrer Obsessionen und äußeren Bedrängungen zeigt. Imamuras Realismus ist nicht kühl, sondern authentisch und verwirrend. "Ich interessiere mich für das Verhältnis zwischen dem unteren Teil des menschlichen Körpers und dem unteren Teil der Gesellschaft. Daraus nährt sich die alltägliche Realität in Japan", sagt Imamura. Und das ist noch fast bescheiden, denn die Menschenlandschaft in Imamuras Filmen bebt von Inzest, Vergewaltigung und Lebenslügen, dass man meint, die Leinwand müsste davon verbrennen.  

Das menschliche Leben lässt sich auch im Land des Lächelns nicht in Konventionen bändigen. Ein Beispiel: Eigentlich müsste die dicke Sadako in "Rote Mordgedanken", 1964 (10.9., 21 Uhr) nach der Vergewaltigung durch einen Einbrecher im eigenen Haus Harakiri begehen, aber Hunger und Lebenshunger siegen. Zur unsicheren Ehe, die sie führt, kommt nun noch die unentschlossene Flucht vor dem herzkranken Vergewaltiger, der sie zügellos und gewalttätig liebt, und so türmen sich die Probleme... Zur Beharrlichkeit, mit der Imamura an den Bedrängungen dran bleibt, ohne eine Lösung anzubieten, kommt eine mehr als dokumentarische, eine verfolgungssüchtige Bildführung mit langen, aber nicht langsamen Einstellungen von atemloser Spannung. Überhaupt geht es ums Sehen. Die Perspektive der Kamera schwankt zwischen zufälliger Beobachtung und Detektivarbeit. Albtraumbilder in "Rote Mordgedanken", Wochenschauschnipsel in "Die Insektenfrau" von 1963 (9.9., 19 Uhr) oder Kommentare aus dem Off produzieren eine ungewöhnliche und immer herausfordernde Mehrdimensionalität. Was diese großen Filme, die manchmal die epische Breite von Zeit- oder Erziehungsromanen ("Mein älterer Bruder" 1959, 6.9., 19 Uhr) besitzen, zusätzlich so authentisch macht, ist die künstlerische Konspiration der Schauspieler mit dem Regisseur, die keine logische Glättung der Charaktere erzwingen. Auch das Happy end, wenn es eines gibt, liegt nicht in einer Erkenntnis oder einem Sieg, sondern eher in einer Ermattung der Figuren.  

Die erste Hälfte der kompletten Retrospektive des Spielfilmschaffens von Shohei Imamura im Arsenal mit den Werken bis 1970, (die durch eine großzügige Unterstützung des Sony-Konzerns ermöglicht wurde,) geht bis zum 14.September, die neueren Filme folgen ab 14. Oktober. (Es herrscht Suchtgefahr! Die Mitgliedschaft bei den "Freunden der Deutschen Kinemathek", die zum Erwerb der preiswerten Sammelkarten berechtigen, wird empfohlen.)      

Matthias R. Entreß      

Arsenal im Filmhaus am Potsdamer Platz, Mitte, (3.) bis 14. September, 2.Teil 14.-31.Oktober. Infos: www.fdk-berlin.de, 269 55 100