22.9.02
Free Jazz mit Formkraft
Alex Schlippenbachs neues Quartett im Studio 10 des
DeutschlandRadios
Das Debüt des neuen Quartetts um den Pianisten
Alexander von Schlippenbach im Studio 10 des DeutschlandRadios war
überschattet von der Nachricht vom plötzlichen Tod Peter Kowalds
(geb.1944), seines Weggefährten in den Gründerjahren des deutschen
Free Jazz.
Diese Musik lebt von Begegnungen, vom
Aufeinandertreffen unterschiedlicher Charaktere. Unvereinbarkeit ist Programm
und Herausforderung. Aber in Schlippenbachs neuer Formation, schon lange in der
Vorstellung des 64-jährigen Pianisten präsent, agieren die Personen
mit unverhohlener Sympathie und kritischem Interesse füreinander.
Großer Dank an DeutschlandRadio und seine rührige Jazz-Redakteurin
Barbara Rüger, die dem Jazz einen so konzentrierten Rahmen bietet.
Drei Generationen: Rudi Mahall, der junge
Bassklarinettist, der weder in Wort noch in Ton je um eine bissige Antwort
verlegen ist (diesmal war er als Conferencier allerdings zum Schweigen
verdammt), trifft auf den Exil-Amerikaner Tristan Honsinger, wahrscheinlich den
atonalsten Cellisten der Welt. Schiedsrichter und Scharfmacher zugleich ist Paul
Lovens am Schlagzeug, der mal swingt, dass die Zehen der Zuhörer mit dem
Wippen gar nicht nachkommen und mal den Kombattanten die gemeinsten Knüppel
vor die Schienbeine schlägt, dass alles vergnüglich
übereinanderpoltert.
Das Konzept der Improvisation hat sich seit den
Anfängen aufs Höchste verfeinert. Gewisse Vereinbarungen über
Intervallstruktur oder Klangentwicklung schränken die Freiheit nicht etwa
ein, sondern erhöhen die Spannung. Da beginnt ein Stück mit der
gläsernen Klanglichkeit der seriellen Musik im Klavier und kehrt sich
langsam um zu einer in tausend Valeurs flimmernden Akkordverdichtung. Der junge
Mahall scheut sich nicht, in die Mottenkiste des traditionellen Jazz zu greifen,
nicht um Witze zu machen, sondern um in einer Fremdsprache zu antworten, auch
Tristan Honsinger, der dem Grundpuls ein verzerrtes Tremolo entgegensetzt,
überrascht zuweilen mit brahmsischer Inbrunst. Daher bekommt diese Musik
eine sonst unerfahrbare Weite. Auch durch die Ausschaltung der künstlichen
Klangbalance: Die Cello-Aktion tritt aus ihrer hintergründigen Präsenz
erst vor, wenn sich das Ensemble zurücknimmt, aber nicht aus Erschlaffung,
sondern Wachheit. Im kontinuierlichem Wechselspiel haben die leisen Töne
auch in ihrer Leisheit ihr Recht.
Matthias R. Entreß