5.9.02
Blachers "Flut" als Hör-Spiel mit
Avantgarde-Applikationen
Eine Bilderflut ist Christine Mellichs Inszenierung von Boris Blachers
Radio-Oper "Die Flut" (1946) nach einer Erzählung von Guy de
Maupassant gewiss nicht. Im Vordergrund steht: Das Hören. Schauplatz ist
ein Hörspielstudio, eine Hörbühne, deren Requisiten vor allem der
Geräuscherzeugung dienen. Ganz auf die musikalische Darstellung
konzentriert sind die vier Sänger; die äußere Situation, ein
Ausflug zu einem Schiffswrack und die Bedrohung durch die steigende Flut, wird
vom Chor in wunderschöner Vierstimmigkeit skizziert. Die Regisseurin aber
interessierte an dem eifersüchtigen Kampf dreier Männer um die Liebe
einer jungen Frau (allzeit präsent: Márta Rózsa) mehr das
Strategiespiel und die vorübergehende Suspendierung sozialer Stellungen.
Wer hat die besten Karten, der reiche Bankier, der leidenschaftliche
Jüngling oder der grobe Naturbursche, ein Fischer, der die Gruppe
geführt hat? Am Ende entscheidet die Gewalt, der Bankier bleibt tot, das
Fischerchen ungeküsst zurück. Regisseurin Christine Mellich,
Quereinsteigerin von der Musikwissenschaft, und Bühnen/Kostümbildnerin
Monika Reichert wagten den Verzicht auf banale szenische Umsetzung und
wählten den Tonstudio-Alltag als Handlungsrahmen. Sehr im Sinne der
kühl-klassizistischen, aber klangschön instrumentierten, tonal
angeschrägten Musik Blachers unter der Leitung von Ari Benjamin Meyers. Der
eigentliche szenische Geniestreich des Abends ist, neben einer überraschend
intensiven Filmeinblendung, ebenfalls musikalisch: An drei Haltepunkten und zum
Schluss belebt, in unterwasserblaues Licht getaucht, ein Schlagzeugquartett die
Zinkwanne, Spüle und Kiesbett mit bereits 1935 komponierten Rhythmusspielen
von John Cage, die, hier verhalten, da aggressiv das Drama weitaus deutlicher
nachzeichnen als die konzertante Szene.
Matthias R. Entreß