22.11.01
Mahlers Zehnte in Vollendung
Staatskapelle Berlin
unter Michael Gielen
Die 10.Sinfonie von Gustav Mahler, 1910
begonnen und vom Tod 1911 beendet,
ist vielleicht das berühmteste
Fragment der Musikgeschichte, und Deryck
Cooke der berühmteste
Bearbeiter. Die Tatsache, dass es eben nicht ein Werk
letzter und eigener
Hand ist, öffnete den Skeptikern die Türen. Im Konzert
der
Staatskapelle Berlin am Mittwoch und Donnerstag im Konzerthaus war es
Michael
Gielen, der am Dirigentenpult Cookes Konzertfassung
höchste
Glaubwürdigkeit bescheinigte. Der nüchterne, exakte
Gielen, der auch bestens
mit allem vertraut ist, auf was Mahlers Zehnte
vermeintlich vorauswies, ist
der Mann, das Werk ins rechte Licht zu setzen.
Er deutet in seiner
Interpretation nichts an, was nicht da steht.
Was
aber hatte Mahler mit seiner Sinfonie sagen wollen? Eine
Prophezeiung
über eine Klangfarbenmusik, wegen des brüllenden
Neuntonakkords im Adagio?
Die gab es seit Arnold Schönbergs
Orchesterstück "Farben" op.16,3 (1909)
bereits. Der hatte
schon den Schritt in die Abstraktion getan, vor deren
Schwelle Mahler in
seiner wenig späteren "Zehnten" zurückwich. Unter
Gielens
Leitung trat Mahler aus dem Nebel der Spekulation vor und ließ
seine
ureigene musikalische Erzählung von der Höllenfahrt zur
seligen Erlösung
hören.
Was für eine Welt entfaltet
sich hier! Nach dem Aufgang einer fahlen Sonne
des Verderbens im Adagio mit
dem furchtbaren Neunklang und dem ins Mark
schneidenden Trompetenton der
unentrinnbaren Todeserkenntnis gehören die
drei mittleren Sätze
gewiss zum Gruseligsten, was Mahler komponiert hat.
Gielen legt diese Musik
präzise dar. Nichts bebt in aufgeplusterter
Erregung, vollkommen ruhig
liegen die Streicherklänge am Beginn des Stücks.
Die Schocks kommen
unvermittelt. Die grotesken Szenen aus der Mahlerschen
Musikhölle, zwei
Scherzi und das "Purgatorium", toben in wahnhafter
Disparatheit
vorbei. Bei Gielen gerät der Wechsel der Affekte nicht unter
die
Räder, er beachtet jedes neue Tempo, jede neue Klanggestalt.
Die
Staatskapelle wirkte ob dieser extremen Anforderungen etwas
verspannt,
konnte sich aber stets wieder fangen. Im letzten Satz
erfüllte Mahler sich
den Traum von der Rückkehr in den
Seelenfrieden. Ein Flug über die Wolken,
eine versöhnliche
Himmelfahrt. Großer Dank an Michael Gielen, der den Bogen
dieser
bedeutenden Sinfonie nicht zerbrach!
Matthias R.
Entreß