14.9.01
 
Kopf und Körper
 
Die Regisseurin Lavinia Frey und ihr Projekt "Genom Genesis"
 
 
 
Ein frischer Wind weht am Maxim-Gorki-Theater, und eine ganz besonders kräftige Windmaschine hat Intendant Volker Hesse aus Zürich mit nach Berlin gebracht: Die Regisseurin Lavinia Frey. Am 20.September feiert die 32-Jährige ihr Berliner Debüt mit "Genom Genesis", einem eigenen Projekt, das sie zusammen mit dem ebenfalls aus der Schweiz importiertem Sänger/Musiker/Performer Christian Zehnder erarbeitet hat. Dabei geht es um nichts weniger als die Erschaffung des Menschen. Was im Altertum der Lehm war, aus dem der Schöpfer Geist den Menschen schuf, das ist seit letztem Jahr das Human-Genom, der menschliche DNS-Strang. Dieser ist eine aus drei Milliarden Teilen bestehende Folge von nur vier Basen namens Adenin, Guanin, Thymin und Cythin, kurz AGTC. Ein Teil dieser von Craig Venter erstmals in die richtige Reihenfolge gebrachten Buchstabenfolge liegt der Aufführung als "Partitur" zugrunde.
 
Dies ist vielleicht das aufregendste kreative Abenteuer ihrer bisherigen Karriere und die höchste Herausforderung, die ein Text seinen Interpreten bieten kann: Aus einer Sprache, deren Grammatik und Vokabular wir noch längst nicht kennen, eine sinnliche Theater-Erfahrung zu schlagen. Frey lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihr Projekt ohne die sprühende körperliche und musikalische Fantasie von Christian Zehnder gar nicht begonnen hätte. Zehnder, in Berlin bereits als die eine Hälfte des Naturklang-Duos "Stimmhorn" bekannt, spielt, schwebend über den auf der Drehbühne liegenden Zuschauern, den Demiurgen, den Menschen-Architekten, man könnte auch sagen, den lieben Gott, der wie ein Künstler mit seinem Material um die Form kämpft.
 
In der christlichen Deutung ist das Gen, so Frey, Leib und Zeichen zugleich. Darf der Mensch in die Schöpfung eingreifen? Frey schwankt zwischen Furcht und Hoffnung. "Am Anfang der Arbeit war ich davon überzeugt, dass die Entwicklung nicht zu stoppen ist. Mich faszinierte die Idee von Herz- und Leberplantagen, Heilung von Krankheiten, ewigem Leben." Das Bewusstsein, dass hier die Grenzen der Ethik überschritten werden, kam ihr mit der klugen Rede von Bundespräsident Johannes Rau, der zum zurückhaltenden Umgang mit dem Wissen mahnte.
 
Während in der Literatur (von "Faust II" bis Aldous Huxley) und im Film eher über die gruseligen Folgen der Genmanipulation spekuliert wurde, näherte Lavina Frey sich dem Rätsel des Lebens ganz vom Erkenntnisbeginn an. Die Wissenschaftler haben Licht ins Dunkel gebracht, doch was sieht man nun? Man hat einzelne Gene bereits identifiziert, aber dazwischen gibt es Sequenzen, die offenbar völlig zwecklos sind. "Schrott", lacht Frey, "und für diesen Schrott interessiere ich mich" - nicht für den perfekten, sondern für den fehlerhaften, den menschlichen Menschen.
 
In "Genom Genesis" als Experiment mit offenem Ausgang kommt die ganze künstlerische Biografie der Regisseurin zum Tragen. Die in Hamburg geborene, aber in Zürich als Deutsche aufgewachsene und trotz baltischer Vorfahren südländisch aussehende Künstlerin ("Ich habe keine Heimat", sagt sie ohne Bitterkeit) begann ihre Theaterlaufbahn als Tänzerin und Choreografin. Die Kombination von Kopf und Körper war ihr von jeher wichtig. Mehr zufällig, nämlich nach einem Interview, das sie während eines kurzen Intermezzos als Journalistin mit Volker Hesse führte, engagierte sie dieser vom Fleck weg als Regie-Assistentin für sein Neumarkt-Theater und förderte sie in entscheidender Weise. Regie-Aufgaben führten sie u.a. nach Hildesheim und Schwerin. Lavinia Frey weist den Anspruch, alles alleine machen zu wollen, weit von sich und ist heute eine Verfechterin des literarischen Theaters. "Ich empfinde die Sprache gegenüber dem Tanz als wahnsinnige Bereicherung!" Mit ihrer tänzerischen Erfahrung jedoch lebt sie im Bewusstsein, dass ein Drama auf dem Theater mit dem Körper erzählt werden muss, und das wird sich auch in ihren beiden anderen Inszenierungen dieser Spielzeit, "Dostojewski-Trip" von Vladimir Sorokin (ab 16.November), und "9 mm" von Lyonel Spycher zeigen.
 
Matthias R. Entreß
 
 
 
Maxim-Gorki-Theater, Festungsgraben 2, Berlin Mitte, Tel.: 20221129. 20.9. (Premiere), 21 Uhr. Weitere Aufführungen am 29.9., 22 Uhr, 30.9. 21.-23.10., jew. 21 Uhr